Interview: Virtuell-aufsuchende Jugendarbeit – Straßensozialarbeit 2.0

Für die Initiative ‚Dialog Internet‘ habe ich Tilmann Pritzens interviewt, Straßensozialarbeiter beim Berliner Träger Gangway e.V.. Hier ist das komplette Interview, wg. der Länge musste es im ‚Dialog Internet‘ in zwei Teilen veröffentlicht werden.

Virtuell-aufsuchende Jugendarbeit: Straßensozialarbeit 2.0
Interview mit Tilmann Pritzens, Gangway e.V.

Tilmann Pritzens ist Sozialarbeiter und auf der Straße unterwegs. Er arbeitet bei Gangway e.V., [1] einem Berliner Träger für Straßensozialarbeit, und ist mit seinen Kolleg/innen in kleineren Teams pro Bezirk organisiert. Gibt es Probleme für Jugendliche und junge Erwachsene können sie sich an das Team wenden: Wohnung weg, Ausbildung, Schulden, Problemen mit Drogen, Arbeitssuche, Obdachlosigkeit u.v.m.; alles, was junge Menschen betrifft, die sich im öffentlichen Raum aufhalten. Diese Arbeit lebt von dem Vertrauensverhältnis zwischen Streetworkern und Jugendlichen und legt den Kontakt von Angesicht zu Angesicht nahe. Das ist größtenteils auch so, aber verstärkt leben die Jugendlichen im Netz: sie chatten und sind in sozialen Netzwerken unterwegs [2], wo sie ihre Fragen klären wie auf der Straße auch. Deshalb sind manche Teams des Gangway e.V. online präsent: man kann sie über verschiedene Chats, in mehreren sozialen Netzwerken und per e-mail erreichen oder auf der Website direkt Fragen an sie stellen. Tilmann Pritzens ist mit seinem Team auf mehreren Ebenen im Netz aktiv und schildert im Interview die Gründe.

Bernd Dörr: Bitte stellen Sie sich und ihre Arbeit im Netz vor: gibt es Unterschiede gegenüber den Teams bei Gangway, die bewußt nicht online sind? Wie seid ihr darauf gekommen mit und im Netz zu arbeiten?
Tilmann Pritzens: Ich bin jetzt im 9. Jahr bei Gangway e.V. im Team Berlin-Marzahn und wir haben mit der Online-Arbeit 2007 angefangen, weil wir gemerkt haben, dass sehr viele Jugendliche bei Jappy [3] sind. Mein Kollege hat einen Account für unser Team angelegt, was anfangs überhaupt nicht meine Zustimmung gefunden hat; aber er hatte damit argumentiert, dass man viele der Jugendlichen, die man nicht mehr auf der Straße sieht, auf Jappy finden kann. Meine Abneigung liegt immer noch darin begründet, dass es bei diesem Netzwerk ein Credit-, also Belohnungssystem gibt, das die User unterschwellig animiert, auf der Plattform online zu bleiben. Es setzt stark auf Regionalisierung, hat keine internationalen Bezüge und ist m.E. nicht sehr bedienerfreundlich, da man sich mit html-Codes beschäftigen muss, um bspw. ein Foto zu posten. Andererseits spricht das wiederum für die meist jugendlichen Nutzer, die das Netzwerk teilweise perfekt beherrschen, sich die HTML-Codes einprägen und damit gut hantieren können.

Aber eine Abneigung, die Arbeit , die man sonst face-to-face macht, jetzt im Netz durchzuführen gab es nicht?
Diese Abneigung gab es prinzipiell nicht. Unsere Grundhaltung ist immer noch, dass wir „webwork“, so nennen wir unsere Arbeit im Internet, ergänzend zur klassischen Straßensozialarbeit gestalten: Streetwork bewegt sich in den Lebenswelten, wo Jugendliche sind. Somit war es für uns eine logische Konsequenz zu sagen: wenn sich Leute Identitäten, Profile und Lebenswelten virtueller Natur aufbauen, dann probieren wir es aus, uns ebenfalls dort zu bewegen. Aus der Erfahrung heraus, dass sich Jugendliche parallel zur normalen eine Online-Identität zugelegt haben, sind wir in weitere Netzwerke eingetreten wie MySpace [4] oder in Chats wie ICQ [5] und sind seitdem dort präsent.

Wie sehen die anderen, bewußt offline arbeitenden Teams eure Arbeit im Netz oder warum sind sie noch nicht im Internet aktiv?
Die Arbeit ist immer an den alltäglichen Anforderungen orientiert und manche Teams sprechen Zielgruppen in ihrem Bezirk an, die nicht so sehr online aktiv sind wie die unseres Bezirks. Die Jugendlichen sind evtl. in Chats aktiv, kommen aber bei Fragen direkt zu den Kolleg/innen, so dass für sie keine direkte Notwendigkeit besteht, online präsent zu sein. Ein anderer Grund kann die eigene, eher ablehnende Haltung sein, die Arbeit ins Netz auszuweiten – aber es kann aus meiner Sicht niemand dazu verdonnert werden, das funktioniert nicht. Zumal man sich dann auch nicht authentisch präsentiert. Nichtsdestotrotz denke ich, dass webwork langsam aber sicher eine Bedeutung annimmt, dass jemand, der sich den sozialen Netzwerken völlig verschließt, etwas verpasst.
Das Thema kommt in der sozialen Arbeit langsam an und ist in unserem Verein schon länger präsent: es gibt immer mehr Kolleg/innen, die Team-Accounts bspw. in Jappy haben, sie aber meist nicht so intensiv betreiben wie unser Team.

In welchen Netzwerken oder Chats seid ihr inzwischen als Team unterwegs?
Als Team haben wir Profile in Facebook, Twitter, Jappy, MySpace, Skype und Google Plus – in allen Communities, in welchen sich auch von uns betreute Jugendliche bewegen; aber es macht Sinn, darüber hinaus persönliche Accounts zu haben, weil die Jugendlichen dann genau wissen wen sie ansprechen. D.h. auf diesen Plattformen bin ich neben den Team-Auftritten mit einem persönlichen Arbeitsaccount vertreten, dazu noch in den Chats ICQ, MSN, Google Talk und Jabber (gmx-chat).
Mir ist die Erreichbarkeit wichtig. Die Leute sollen sehen, dass ich online bin und angeschrieben werden kann, das ist für mich ein niedrigschwelliges Beratungsangebot. Der größte Anteil an Beratungen und inhaltlicher Arbeit im Netz läuft inzwischen über Facebook. Die nahezu ganztägige Online-Verfügbarkeit ist seit 2 Jahren in unserem Team über Smartphones gegeben, die wir im Rahmen eines Pilotprojekts für Gangway angeschafft haben. D.h. wir sind neben unserer mobilen Arbeit auf der Straße in den Netzwerken vertreten und benutzten unterwegs in erster Linie die Chat-Kanäle. Das Pilotprojekt haben wir damals gestartet, als wir merkten, dass wir immer mehr Zeit vor dem Rechner – statt auf der Straße – verbrachten. Durch die Smartphones sind wir auch draußen online ansprechbar und verfügbar.

Wie kommt der Kontakt zu den Jugendlichen oder jungen Erwachsenen im Netz zustande?
Wenn Du im Netz oft sichtbar bist, spricht sich das bei Jugendlichen herum. Sie geben sich gegenseitig den Ratschlag dieses Team oder den bestimmten Sozialarbeiter anzuschreiben. Wir haben im Team den Grundsatz die Leute nicht aufzusuchen, sie kommen zu uns und schicken uns Freundschaftsanfragen, wir wollen sie ja auch nicht nerven. Es ist ganz selten, dass ich Jugendlichen, die mir im Netz auffallen, Freundschaftsanfragen schreibe. Oft haben Jugendliche, mit denen wir es zu tun haben, schlechte Erfahrungen mit Sozialarbeitern gemacht oder wollen einfach keinen Kontakt mit uns; manche würden solche Freundschaftsangebote als Belästigung ansehen. Da halte ich mich komplett zurück. Umgekehrt propagiere ich v.a. im Streetwork-Bereich den Online-Kontakt, webwork, ergänzend zur klassischen Straßensozialarbeit zu betreiben, d.h. ganz viel deiner persönlichen Kontaktarbeit, Betreuung und Beratung harmoniert perfekt ergänzt durch webwork.
Die einzige Ausnahme ist es, so etwas wie Kontakt-Aufträge von Jugendlichen anzunehmen, die sich Sorgen um ein Freund machen und uns bitten, ihn anzuschreiben (was wir mit Verweis auf den Bekannten auch tun).

Kannst Du das Online-Angebot genauer fassen: ist es Online-Beratung? Ist es Betreuung, was ihr anbietet?
Unser Angebot umfasst eigentlich alles, was man sich vorstellen kann: es gibt Kurzberatungen, bei denen Jugendliche konkrete Fragen bspw. zu ihrer Wohnung und Mietzahlungen haben. Dann suche ich ihnen bei Bedarf z.B. per Smartphone die Ansprechpartner in Ämtern raus, die sie gesucht haben, damit ist es erledigt.
Ein Großteil der Online-Beratung läuft jedoch parallel zur sonstigen Einzelbegleitung. Sie läuft, weil mein Grundsatz in sozialen Netzwerken ist, dass ich die Leute kenne, mit denen ich befreundet bin oder sie zumindest zuordnen kann. Wenn also ein Jugendlicher eine Freundschaftsanfrage stellt, frage ich nach dem Hintergrund der Anfrage, oft ist es eine Empfehlung einer seiner Freunde. Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe, wer meine Postings lesen kann etc., was in der Regel ernst genommen wird, d.h. ich kenne die Leute und weiß, was sie beschäftigt.

Habt ihr es inzwischen geregelt, dass Online-Beratungen und webwork als Arbeitszeit gilt?
Das war von vornherein geregelt als klar wurde, dass wir die Arbeit auch online durchführen. Ergänzend zur normalen Arbeitszeit, auf der Strasse, kommt die Online-Präsenz, die sich auf Zeiten ausdehnen kann, in denen ich privat im Netz, aber trotzdem für die Jugendlichen ansprechbar bin, d.h. kommt es dort zu einem längeren Austausch, einer Beratung oder, wie es oft der Fall ist, einer Krisenberatung, zählen wir sie zur regulären Arbeitszeit hinzu.

Kommen wir nach 4 Jahren Online-Tätigkeit zur Frage der Erfahrungen: werden die Kontakte online häufiger oder seltener, wenden sich immer mehr Jugendliche an Euch, verteilen sich die Jugendlichen in verschiedenen Netzwerken, hat sich der Ansatz bewährt?
Insgesamt haben wir immer mehr Anfragen in den verschiedenen Kanälen, d.h. die Jugendlichen nutzen die Netzwerke, in denen sie präsent sind, auch gleich dafür. Es macht aus unserer Sicht keinen Sinn einen alternativen Kanal oder ein neues Netzwerk anzubieten – in der Hoffnung, Jugendliche dort anzusiedeln. Wir haben uns stattdessen angewöhnt, auf allen Kanälen präsent zu sein, die von Jugendlichen genutzt werden – und über Multi-Messenger auf dem Smartphone oder auch dem PC sind wir mit einem Klick auf allen Kanälen auf „Empfang“. Wir bekommen Rückmeldungen, dass die Jugendlichen es viel angenehmer finden, uns per Chat anzuschreiben als zu telefonieren. Sie haben viel weniger Hemmungen und finden es weniger aufdringlich per Chat Hallo zu sagen und zu wissen, dass es mal 5 Minuten dauern kann, bis ich antworte. Sie sehen, dass ich online bin und wissen, dass sie mich anschreiben können. Natürlich kann der Chat als Beratungsangebot in Einzelfällen nicht ausreichen, dann verabreden wir uns persönlich oder längere Beratungszeiten.

Worin siehst Du die Nachteile dieser Form von Kommunikation? Sie braucht als textbasierter Austausch mehr Zeit und es wird ein einziges Thema angesprochen, während im direkten Kontakt über Bemerkungen oder Nebensätze mehr möglich ist.
Ich sehe fast nur Vorteile, aber es ist richtig: es ist umständlicher und es fehlen die non-verbalen Signale wie Mimik und Gestik. Die Vorteile überwiegen für mich aber: wenn etwas als Text formuliert werden muss, findet eine völlig andere Verarbeitung statt, als wenn es schnell in das Handy gesprochen wird. Es ist ein verbindlicherer Kontakt, wenn der formulierte Text vom Anderen auch verstanden werden soll, eine andere Sortierung im Kopf. Ein weiterer Vorteil ist es, den Chat zurückverfolgen zu können, Links oder Telefonnummer nachzuschauen, den Chat-Verlauf speichern und Entwicklungen aufzeigen oder Signale von Jugendliche im zeitlichen Verlauf sehen zu können. Wir schauen auch besonders auf die Signale, wie sie von den Emoticons oder den Statusmeldungen ausgehen, d.h. wenn ein Jugendlicher z.B. per Symbol dauernd erklärt, er sei traurig, frage ich nach. Wir greifen ein solches Signal auf und öffnen damit einen Kanal, eine Möglichkeit für den Jugendlichen zur Kommunikation.

Wie sieht es mit dem Vertrauensverhältnis der Jugendlichen aus: kommen dieselben immer wieder oder sind es doch mehr Kurzberatungen? Wie stabil ist das Verhältnis zu den Jugendlichen?
Das ist vollständig von den Einzelnen abhängig: manche melden sich bei jedem kleinen Problem und halten Kontakt über Jahre hinweg, aber es sind auch viele Kurzberatungen, wo das Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ perfekt funktioniert, wie bei dem Beispiel der Wohnungsproblematik. Längere Prozesse und Begleitungen haben wir oft bei obdachlosen Jugendlichen, v.a. bei Angelegenheiten mit Ämtern oder der Besorgung und Ausstattung von Wohnungen, die mit direktem Kontakt und Begleitung funktionieren; aber Zwischenabsprachen, Terminvereinbarungen oder Nachfragen, wie ein Termin gelaufen ist, passieren sehr oft online. Das Nachfragen und Nachhaken basiert auf dem Grundvertrauen und der Arbeitsbeziehung, die schon vorhanden sind, und sind wichtige oder auch entscheidende Punkte im Beratungsprozess.

Wie sehen denn die Rückmeldungen von den Jugendlichen zu eurer Präsenz im Netz aus und wie schätzt Du die Effizienz ein?
Wir haben definitiv nur positive Rückmeldungen. Der Hauptvorteil für mich ist es, dass unser Angebot nicht aufdringlich ist, d.h. würde ich einen Jugendlichen z.B. per Handy kontaktieren und dauernd anrufen, wäre er bald genervt und würde das Gespräch eher wegdrücken. Über die Statusmeldungen sehe ich genauso wie die Jugendlichen bei mir, ob sie ansprechbar sind oder nicht und wenn ich zum Ergebnis von Terminen nachhake, wird es als professionelle Nachfrage begriffen. Wir machen Medienpädagogik konkret auch an Veröffentlichungen von Jugendlichen, wenn wir auf Urheberrechte bei Fotos hinweisen oder auf problematische Äußerungen, die deren Arbeitsverhältnisse betreffen.

Wo siehst Du die Unterschiede zur klassischen Online-Beratung mit geschützten Räumen, geschlossenen Foren oder anonymer e-mail Beratung?
Der größte Unterschied ist es, dass wir über soziale Netzwerke wie Facebook am Leben der Jugendlichen teilnehmen, es bleibt ja fast nichts verborgen, so viel Einblick wie man bekommt, was man sehr sensibel behandeln muss. Dort wird das, was im Alltag passiert, reflektiert, es findet sehr viel reales Leben statt. Umgekehrt zeige ich über meine Postings viel von meiner Arbeit, in dem ich transparent mache, wo ich gerade bin und was als nächstes ansteht.

Wie sieht es mit den heißen Themen aus: werden z.B. strafrechlich Relevantes, Eßstörungen oder Suizidgefährdung im öffentlichen Chat oder im Netzwerk von Euch beraten? Gibt es einen Schutz für die Beteiligten gegenüber Störern? Wird auf geschützte Chats verwiesen?
In der Regel unterbreche ich sofort den öffentlichen Chat, wenn solche Themen kommen, zusammen mit dem Hinweis auf die Brisanz und biete ein persönliches Gespräch mit einem Treffen oder mindestens einem Telefonat an, was sofort akzeptiert wird. Es hat noch niemand auf dem Online-Kontakt bestanden, weil die Jugendlichen sofort verstehen, dass sie sich strafbar machen können oder dass evtl. jemand den Chat mitverfolgen kann etc. Ich vertraue keinem Chat oder einem anderem Kommunikationskanal so sehr, dass ich sicher sein kann keine Mitleser/Mithörer zu haben. Es gehört für mich zum Vertrauensverhältnis und zur professionellen Arbeitsbeziehung zu erkennen, wenn sich jemand mit seinen Äußerungen selbst gefährdet. So soll webwork die direkte Arbeit ergänzen, d.h. wenn sich jemand einem direkten Kontakt verweigern würde, würde er sich auch der Beratung insgesamt verweigern, was noch nie vorgekommen ist. Im Gegenteil waren die Jugendlichen für die Hinweise dankbar und haben einem Treffen oder einem Telefonat zugestimmt.

Erlebt ihr eure Online-Präsenz als Türöffner für die Arbeit mit den Jugendlichen oder ist es eine Hürde für diejenigen, die lieber direkten Kontakt hätten?
Es ist prinzipiell alles an Zugangskanälen offen: wer direkten Kontakt zu uns haben möchte, kann es über die veröffentlichten Handynummern, das Büro mit Sprechzeiten oder auch direkt auf unsere GPS-Lokalisierung hin ein Treffen vereinbaren. Wer uns im Chat anspricht, möchte das ja auch so, z.B. bei einem Erstkontakt, um abschätzen zu können, ob wir überhaupt die Richtigen sind, die ihnen helfen können. Bevor sie weit fahren, um uns im Büro zu sprechen, schreiben sie uns an. Es ist wie gesagt ein Zusatzangebot oder Service, dass wir nahezu ganztags online sind.

Erweitern wir die Dimension der Online-Präsenz doch ein wenig: habt ihr schon Überlegungen angestellt Partnerangebote in euer Angebot zu integrieren, d.h. bspw. Rechtsanwälte, Krankenschwestern, Polizisten, Gesundheits- oder Drogenberater in die Online-Zeiten reinzunehmen anstatt Jugendliche an sie weiter zu vermitteln?
Was wir bereits über die Website von Gangway [1] mit einem Forum umsetzen, ist die Möglichkeit Fragen zu Drogen und juristischen Belangen zu stellen, die wir uns in einem kleinen Team aufteilen zu dem ein Rechtsanwalt gehört [6]. Diese Möglichkeit gibt es schon, aber wünschen würde ich mir Jugendliche direkt an andere Online-Berater live weiterschicken zu können, wenn der Erstkontakt aus inhaltlichen Gründen besser bei einer anderen Fachkraft erfolgen sollte. Da wir in der Straßensozialarbeit sehr vernetzt arbeiten, kann ich Jugendlichen andere Beratungsangebote empfehlen, die sie im direkten Kontakt aufsuchen müssen. Wir haben sehr viele Nachfragen, ob diese Angebote online zu erreichen sind und müssen es leider oft verneinen. Aber es gibt zumindest in Berlin im Bereich Drogenberatung einige Einrichtungen, die sich überlegen einen Account z.B. bei Facebook zu eröffnen, um Werbung für ihre Beratungsangebote zu machen oder an ihre Zielgruppe besser heranzukommen.

Wie im Merz-Artikel [7] erwähnt möchte ich gerne auf ein verändertes Stellenprofil eingehen: begrüßt Du es, wenn das Arbeitsprofil Straßensozialarbeit zumindest zum Teil Online-Arbeit umfasst, die Mitarbeiter/innen also Kompetenzen dazu bereits mitbringen müssen?
Mittlerweile sage ich ‚Ja‘, weil ich denke, dass es in den nächsten Jahren nicht weniger, sondern mehr Online-Kontakte in der Straßensozialarbeit geben wird. Zumindest sollte jemand in diesem Bereich dazu fähig und bereit sein, seine Arbeit in sozialen Netzwerken zu präsentieren. Wir haben dazu eine social media policy entwickelt, in der wir vereinsintern geregelt haben, wie wir im Netz auftreten oder unsere Projekte und Aktionen veröffentlichen: alles was geplant und durchgeführt wird, wird über unsere Homepage als Basis dokumentiert und von dort bei Facebook und Twitter gepostet. Für uns gibt es zwei Vorteile: erstens finden Besucher die Artikel auf der Homepage leichter und schneller wieder als über lange Posting-Listen bei Facebook und zweitens sind auf der Homepage auch viele andere Informationen und Anregungen zu finden.
Es ist im Verein noch nicht allgemeiner Konsens bei Neueinstellungen auf die Online-Arbeit zu verweisen und daran nicht Interessierte gleich abzuweisen, so weit sind wir noch nicht, aber die Teams überlegen sich, ob und wie sie sich in den Netzwerken präsentieren, es verschließen sich nur Wenige dem bewußt, d.h. es gibt mindestens einen Team-Account oder Einzelne aus den Teams sind online unterwegs.

Was würdest Du anderen Straßensozialarbeitern, die sich für die Online-Arbeit interessieren, raten, wenn sie neu anfangen wollen, wie sollten sie vorgehen?
Die erste Entscheidung ist m.E. die, auf welche Weise sie im Netzwerk aktiv werden wollen: will ich beraten oder will ich sozusagen nur online meine Flyer verteilen und Veranstaltungen veröffentlichen. Die Entscheidung ist bei Facebook diejenige, ob ich eine Seite oder ein Profil eröffne, mit dem ich Beratungen anbieten kann. Meine nächste Empfehlung wird von manchen Kolleg/innen nicht mitgetragen, aber ich bin dringend dafür einen Arbeits-Account einzurichten, der keinerlei Sperren hat und wo keine Privatsphäreneinstellungen gemacht werden müssen, weil alles zu Veröffentlichende veröffentlicht werden darf. Es gehört für mich zu einem niedrigschwelligen Angebot, wenn ein Beratung suchender Jugendlicher sofort weiß, mit wem er es zu tun hat und er mit mir in Kontakt treten kann. Das sind für mich die wichtigsten Fragen: dass man sich vorher überlegt, was man dort tun will, weil es nichts Schlimmeres gibt als tote Accounts, wo nichts passiert und zweitens, dass man sich einen Arbeits-Account anlegt.

Wie ist Deine Einschätzung, auf welchem Stand die Online-Präsenz der Straßensozialarbeit inzwischen ist: unterhalten wir uns noch über Einzelentscheidungen von Mitarbeiter/innen oder Teams oder gibt es schon fertige Konzepte wie die social media guidelines von Unternehmen, die man auf Bundeskongressen anderen Interessierten vorstellen kann, direkt zur Umsetzung geeignet?
Es ist vielleicht ein Spezifikum von Streetwork: Du hast in diesem Bereich so viele Individuen und individuelle Arbeitsweisen, dass Du es nie schaffen wirst, einheitliche Accounts oder Profile herzustellen. Auf unserer Homepage sind selbst die relativ einheitlichen Team-Vorstellungen unterschiedlich, über dieses Level sind wir froh! Über die Online-Redaktionsgruppe im Verein versuchen wir die Veröffentlichungen einheitlich gemäß den internen Richtlinien zu gestalten, wie schon erwähnt: erst über die Homepage und dann in die Netzwerke veröffentlichen, nicht umgekehrt und nicht nur eins davon. Wir unterstützen und helfen Kolleg/innen, die nicht so netz-affin sind oder keine Zeit dazu haben und veröffentlichen ihre Artikel auf der Homepage und in den Netzwerken.

Was wünschst Du Dir von Deinem Arbeitgeber zur Unterstützung der Online-Arbeit und Präsenz?
Ideal wäre es, wenn es ein Spezialisten- oder Redaktionsteam gäbe, das sich ausschließlich mit den Online-Aktivitäten beschäftigen kann. Wir arbeiten online parallel zur sonstigen Arbeit und müssen uns Zeit dafür regelrecht freischaufeln. Das Thema hat im Verein und mit den Jugendlichen dermaßen an Volumen zugenommen, dass wir inzwischen vereinsintern webwork-Sprechstunden anbieten. Die kollegiale Beratung bezieht sich auf die Einrichtung von Tools, z.B. gemeinsam gepflegte Kalender oder Etherpads [8], Dokumenteneinrichtungen etc., auch wenn die Anwendungen auf dem PC schon laufen, sollen sie auf Smartphones ebenfalls nutzbar sein. Dafür wird Arbeitszeit zur Verfügung gestellt, die auch zur Schulung untereinander dient, da manche bei Web 2.0 Tools fitter sind, Andere bei Android oder iPads. Ohne die momentane Doppelbelastung wäre ein solches Online-Team fähig regelmäßig zu den Teams in die Bezirke zu gehen und dort Beratungen durchzuführen, sie in der Einrichtung von Accounts, der Benutzung von Tools oder überhaupt der technischen Ausstattung zu unterstützen. Momentan muss ich mit meinem Team abklären, ob ich es mir zeitlich leisten kann, andere Teams in diesem Sinn zu unterstützen, was im Winter besser klappt als im Frühjahr und Sommer, wenn ich diese Aktivitäten wieder massiv zurückfahren muss.

Eure Arbeit im Netz ist fachlich mit dem Begriff virtuell-aufsuchende Jugendarbeit benannt und nun ist die Frage, inwieweit es theoretische Zugänge dazu gibt und wie stark der Austausch mit anderen Online-Streetworkern ist: wie sind eure Erfahrungen?
Wir sind sehr stark im Austausch mit Anderen, z.B. mit den Kolleg/innen,  die im ländlichen Raum arbeiten. Deren Erfahrungen mit der Kontaktaufnahme in sozialen Netzwerken sind oft ganz andere: wenn dort Freunde auf Listen entdeckt werden, die aus einer ähnlichen oder gar der gleichen Region kommen schreibt man sich sofort an und freut sich, jemanden aus seinem Gebiet online gefunden zu haben.
Bundesweit tauschen wir uns auf der Fachebene über eine geschlossene Facebook-Gruppe aus, um Informationen zu verteilen oder zu bekommen. Ein weiterer Austausch findet auf einer Google-Site in einem Wiki und einem Blog statt [9], wo wir alle Erfahrungen mit webwork sammeln, uns gegenseitig beraten oder Fragen stellen.
Theoretische Zugänge zu webwork finden über Student/innen statt, die in ihrer Ausbildung mit ihrem Hintergrund der privaten Nutzung von Netzwerken über diese Form der Sozialarbeit im Netz stolpern, sich interessieren, in den Gruppen mitlesen, Facharbeiten darüber verfassen und sich vernetzen etc. Weitere theoretische Entwürfe gibt es bislang noch nicht, momentan sind es Handlungsempfehlungen, die von Kolleg/innen für Kolleg/innen bundesweit auf Streetworker-Treffen entwickelt werden und sich mit Grundsatzfragen beschäftigen, wie z.B. der Sinnhaftigkeit von Online-Präsenzen oder der Arbeitszeitregelung, was für die Argumentation bspw. gegenüber Kolleg/innen oder Geschäftsführer/innen, die sich nicht im Netz bewegen, sehr wichtig und unterstützend ist. Bei bundesweiten Streetworker-Treffen ist der praktisch orientierte Austausch seit 2 – 3 Jahren immer wieder Anlass für einen Workshop. Darüberhinaus sind online organisierte, gemeinsame Projekte z.B. über die Facebook-Gruppe, ein Thema oder Diskussionen, Entscheidungsfindungen, Projektentwürfe mit Anderen mittels Etherpads zu teilen und zu diskutieren, was für mich ebenso zu webwork gehört wie die Beratung.

Welche Zukunftsmusik spielt bei Euch, an welchen neuen Ideen seid ihr gerade dran?
Spannend finde ich die Idee eines virtuellen Jugendzentrums oder auch die Einbeziehung verschiedener Fachleute in die Online-Beratung, so dass ich Jugendlichen unterschiedliche fachliche Zugänge anbieten kann. Als nächstes finde ich den Ausbau von ePartizipation wichtig, so dass Projektarbeit von Jugendlichen mit einer echten Beteiligungschance gestartet werden kann und sie die Öffentlichkeitsarbeit z.B. mit einer Facebook-Seite selbst in die Hand nehmen oder sich über ein Etherpad an Diskussionen beteiligen, gerade wenn sie nicht vor Ort sein können. Wichtig finde ich es die Jugendlichen einzubeziehen und Entscheidungen transparent zu machen, das wird oft für die politische Ebene diskutiert, es gilt aber für mich v.a. auf der Projektebene, auf der Jugendliche ihren Beitrag bringen können, egal zu welcher Uhrzeit.

Ich bedanke mich bei Tilmann Pritzens für das ausführliche Gespräch!
Bernd Dörr

Links:
[1] http://www.gangway.de
[2] http://www.mpfs.de/index.php?id=11
[3] http://www.jappy.de, Team Berlin-Marzahn: http://www.jappy.de/user/GangwayMarzahn
[4] https://www.myspace.com, Gangway auf MySpace: https://www.myspace.com/gangwaybeatzberlin
[5] http://www.icq.com/de
[6] http://www.gangway.de/gangway.asp?client=gangway&cat1id=1795&cat2id=2209
[7] http://www.merz-zeitschrift.de/index.php?NAV_ID=11&HEFT_ID=112&RECORD_ID=6220
[8] http://openetherpad.org oder http://beta.etherpad.org oder http://typewith.me oder http://www.yourpart.eu oder http://www.piratenpad.de oder …
[9] http://sites.google.com/site/streetwwwork

Über B. Doerr
e-Learning Mitarbeiter, Medienpädagoge, Dozent, Berater für digitales Leben: digital unterstütztes Lernen, Medienbildung, web 2.0, Projekte, Fortbildungen, open source, social media, Linux, soziale Netzwerke

2 Responses to Interview: Virtuell-aufsuchende Jugendarbeit – Straßensozialarbeit 2.0

  1. Pingback: Soziale Arbeit und social media | ::: digitalareal :::

  2. Pingback: Glossar: Virtuell-aufsuchende Jugendsozialarbeit | Soziale Medienbildung

Hinterlasse einen Kommentar